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Sir, the Englishmaster

Leseprobe - Ausschnitt

Die Klasse johlte wieder einmal vor Freude, als sie erfuhr, dass Sir ihr die Ehre geben sollte. Ihm eilte der Ruf voraus, seinen Schülern völlige Gestaltungsfreiheit des Unterrichts zu bieten. Das Kaliber dieses Professors war so unbeschreiblich, dass dies wörtlich zu nehmen ist und es mir schwer fällt, dieses Phänomen in Worten zu erfassen. Wie keinen anderen sehe ich diesen alten Lehrer noch lebhaft vor mir, eine herzensgute, alte Haut sozusagen aber ohne ein Fünkchen Autorität, dafür aber mit einer Seelenruhe und Gutgläubigkeit ausgestattet, die selbst den größten Tumult übersah. Wie er holprig die Klasse betrat, uns begrüßte:
»Good morning, pupils!« und wir brüllten:
»Good morning Sir!« In seinem braunen, abgetragenen Tweedanzug mit den ausgebeulten Knien und Jackentaschen, die seit Jahren wohl kein Bügeleisen mehr geglättet hatten, war er bekleidet wie eine Vogelscheuche. Sein holpriges Gehen kam vom rechten Klumpfuß, der in einem derben schwarzen Spezialschuh steckte und ihm durch den nachziehenden Schritt jenen unverwechselbaren Bewegungsrhythmus verlieh, dem sich auch seine Aussprache angepasst hatte. Seine angenehme, weiche, dunkle Stimme klang wie die eines guten alten Onkels, ruhig, kindhaft und sein Wesen war treuherzig, einfältig aber auch etwas naiv. Eine hagere Erscheinung mit langen Gliedmaßen, einem faltigen und tief gefurchten aber stets freundlich blickendem Gesicht, der hohen, kahlen Stirn, die zur Halbglatze fortschritt, umgeben vom kurz geschnittenen ergrauten Haarkranz. Besonders die übermäßige Betonung des Vokals »i« gab seiner Sprache einen lustigen Anstrich.
Kam Sir ins Schulzimmer, begab er sich ans Pult und ließ sich dort mit seiner uralten, abgewetzten Aktentasche schwerfällig nieder. Er sprach dann in eine Klasse, die sich aber überhaupt nicht angesprochen fühlte und sich auch nicht von ihm stören ließ.
Mehr ein Selbstgespräch, das er da in aller Ruhe führte. Wenn seine Stimme unterging im Lärmpegel der Klasse, schrie er zornig:
»Silent please!«, der Lärmpegel gab etwas nach, doch ohne Mitarbeit zu fordern teatchte Sir weiter vor sich hin. Unterdessen hatte man sich zu Gesprächsgruppen zusammengesetzt auch mit dem Rücken zum Lehrer, unterhielt sich angeregt, machte kleine Ausflüge im Klassenzimmer oder spielte schon auch mal eine Runde Schafkopf. Da stießen dann häufig die lautstarken Ausrufe der Kartler mit den Ruheforderungen zusammen aber sonst passierte nichts.
Unangenehm empfanden wir es, wenn plötzlich von Sir die Vokabel Exercise aufgeschnappt wurde, sie verbreitete sich dann allmählich und alle starrten entsetzt nach vorne:
»Sir – das können Sie uns doch nicht antun!« Und ob er konnte, Sir machte unerbittlich Ernst, ließ die gefürchteten Blätter austeilen, um unseren Wissensstand zu überprüfen. Auch so eine Schularbeit verlief nicht in üblicher Schweigsamkeit, hier galten andere Gesetze. Jeder war jetzt Einzelkämpfer, auf sich gestellt, war hoffnungslos verloren, wenn es nicht gelang irgendwoher Informationen zu beziehen. Es gab in der Klasse gottlob zwei, drei Leute, die strebsam mitlernten, so gut es halt den Umständen nach ging und diese Raritäten waren neben den Schulbüchern und Heften jetzt sehr stark gefragt.
Wenn wir in Stafette das begehrte Material voneinander abschrieben, hing der Erfolg natürlich davon ab, ob die Quelle einwandfreie Qualität sprudelte und ferner, ob die beteiligten Zwischenhändler ihre Sache richtig machten und keine Fehler produzierten. Je weiter aber die Distanz zum Streber war, umso sicherer hätte man auf schlechte Noten wetten können, während wenige Glückspilze mit genialer Nachbarschaft bei der Notenvergabe meist recht aufgeweckt waren und glänzende Augen hatten.
Einigen ging sogar allmählich der Realitätssinn verloren, wenn sie sich den armen Schweinen gegenüber gebärteten als beruhe das beständig gute Ergebnis auf eigener Leistung. Die armen Schweine, das waren die Hinterbänkler oder in Isolation sitzende Schüler, die verzweifelt bei Sirs Schularbeiten Ferngespräche führten, um den totalen Untergang zu entgehen.
War dann die Probearbeit korrigiert und Sir verteilte die Arbeiten, pflegte er jedes Mal bei Noten zwischen eins und drei zu sagen:
»Der Dingsda ist ein guta Schila!« Noten von der Vier ab kommentierte er:
»Der Dingsda ist ein schlechta Schila!« Und speziell in meinem Fall erlebte ich Lob und Tadel grundsätzlich in Wechselbädern, wobei der »schlechta Schila« insgesamt doch viel mehr Erfolg in seinem Misserfolg hatte.
Einmal – schon vertrauter, ja zutraulich zu uns geworden, offenbarte Sir uns ein ganz neues Bild von sich. Er empfahl sich als Stratege und wir erkannten in ihm den größten Feldherrn aller Zeiten. Selbst ein Napoleon konnte da nicht mehr das Wasser reichen, war der doch auch nur bis Moskau gekommen. Wenn Sir derart private oder gar hochpolitische Themen anschnitt, war die ganze Klasse ruhig gestellt und hing an seinen Lippen, dann war nämlich immer Kolossales zu erwarten.
Sir ging mit Hitler ins Gericht, sagte wortwörtlich:
»Wenn i der Hitla gewesen wär' – i' hätt' Russland in drei Tag erobert!«, dabei lachte er satanisch auf und zeigte uns seine klobigen vergilbten Zähne.
»Sir – Sir!«, murmelte das Fußvolk jetzt andächtig und wir schauten uns mit einsturzgefährdeten, todernsten Gesichtsfassaden um. Prompt kam dann, wie bei der Ausgabe der Probearbeiten, sein Kommentar:
»Der Hitla war ein schlechta Feldherr!«, da krachten unsere Fassaden zusammen und wir lachten ihn unverhohlen ins Gesicht, was ihn zur Abgabe eines heftig lauten Fazits gereizt haben mag:
»Der Hitla war ein richtiga Schweinehund!«
Dieses Vermächtnis trage ich noch immer mit mir herum, denn wo er recht hat, da hat er schließlich recht!

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